Pflegefalle? Wie Sie einen Ausweg finden

02.09.2022

Pflegefalle? Wie Sie einen Ausweg finden

In den letzten zwei Monaten haben wir bereits über die „Pflegefalle“ berichtet, in die viele Angehörige, Freunde oder auch Nachbarn geraten, wenn ein liebgewonnener Mensch pflegebedürftig wird. Eine ausführliche Erklärung was die Pflegefalle ist, finden Sie hier. Im letzten Monat haben wir auch beleuchtet, wie man vermeidet, in die Pflegefalle zu geraten.

Diesen Monat wollen wir uns ansehen, wie Sie aus der Pflegefalle kommen können. Das „fallenartige“ an der privaten Pflege ist ja gerade, dass die Situation oft ausweglos scheint. Druck vom Umfeld, von sich selbst, von der gepflegten Person oder sogar von Ärzten oder einem Pflegedienst können enorm sein.

Deswegen sehen wir uns Möglichkeiten an, wie man sich aus der privaten Pflege zurückzieht – ganz oder teilweise, diplomatisch oder ruckartig.

Der Artikel ist lang und berührt viele verschiedene mögliche Probleme. Wenn Sie das Gefühl haben, in einer Pflegefalle zu stecken, treffen vielleicht nur ein paar oder kaum Punkte auf Sie zu. Trotzdem können Sie sich natürlich an unsere professionelle Pflegeberatung wenden.

Die Belastung durch Pflege erkennen

Zunächst merken viele Menschen nur „irgendwie“, dass „alles“ zu viel wird. Sie fühlen sich schlechter, schlafen schlechter, werden häufiger auf ihre schlechte Laune angesprochen, schaffen weniger, sind lustlos, … Wer chronisch krank ist, hat häufiger Schübe, Anfälle oder einen allgemein verschlechterten Symptomzustand.

Das Problem ist, dass all diese Symtpome bei Menschen schlicht bedeuten, dass irgendetwas falsch ist: Stress durch Arbeit bis Familie, Depressionen, Ängste, hormonelle Umstellungen, Veränderungen durchs Alter, … oder sogar Schlafmangel, weil eine helle Lampe vorm Fenster anders leuchtet als bisher.

Deswegen ist es wichtig, sich bewusst zu machen, wenn Schlafmangel und Stress Folgen vom Auslöser Pflegebelastung sind. Oft neigt man dazu, erst mal andere Gründe (die Lampe, neues Waschmittel, das Wetter, die neue Chefin, …) heranzuziehen, bevor man wagt, Pflege als Stressor zu erkennen.

Wer diesen Artikel liest, kommt sicherlich irgendwie mit dem möglichen Stress durch Pflege in Kontakt. Also kann es hilfreich sein, die Frage umzudrehen: Wäre das andere Ding (die Lampe, das Waschmittel, die neue Chefin, …) genauso belastend, wenn ich mehr von der Energie hätte, die ich aktuell in die Pflege stecke?

Wenn die Antwort nein ist, dann genügt das. Es ist völlig akzeptabel, mehr Energie für das trivialste aller Hobbies zu wollen. Die anderen Ansprüche auf Energie, Zeit und Laune müssen nicht „edler“ oder „wichtiger“ als Pflege sein. Es genügt, wenn sie wichtig sind – ganz subjektiv.

Die Pflege nicht auf ein Podest stellen

Man muss sich frei von der Idee machen, dass die Pflege automatisch das wichtigste, schönste oder edelste im Leben ist. Für manche Menschen ist es das, für manche Partnerschaften, Freundschaften oder Familien funktioniert das. Manche Menschen sind aber auch in ganz anderen Dingen gut.

Wäre es nicht auch edel, gut und wichtig, dass all die Personen, die jetzt pflegen, das nächste große Musikstück komponieren, das die Menschheit berührt? Oder einen Plan für den Weltfrieden entwickeln? Oder in die Wissenschaft gehen, um zu forschen und Krebs zu besiegen?

Es ist großartig, wenn jemand ein Talent hat, die Möglichkeit es auszuleben, und auch noch Spaß an dem findet, was er gut kann. Aber niemand hat die Verpflichtung, alles zu tun, auszuhalten oder zu versuchen, was irgendwie geht. Auch nicht, zu pflegen.

Wäre es nicht auch edel, gut und wichtig, eine Lösung für sich und den pflegebedürftigen Menschen zu finden, die bedeutet, dass es allen damit besser geht?

Rausfinden, was genau stresst

Auch wenn dieser Punkt den ersten eigentlich noch mal wiederholt, ist es wichtig, sich klarzumachen, was eigentlich genau an der Pflege so anstrengend ist. Schreiben Sie absolut alles auf, was durch die Pflege in Ihrem Leben anders ist als mit. Seien Sie allgemein und dann konkreter oder konkret und später allgemein.

Beispielsweise könnten Sie mit einem allgemeinen Punkt starten. „Zu wenig Zeit haben“. Was bedeutet das? Wo kommt das her und wo fehlt die Zeit? Das klingt albern, aber was wir als „Zeiträuber“ empfinden, ist ganz unterschiedlich. Für einige Menschen ist es so gut wie kein gefühlter Mehraufwand, für zwei Haushalte einzukaufen, für andere ist die ganze Routine oder das Ritual des Einkaufens gestört.

Oder Sie haben einen konkreten Punkt „Ich hasse Spritzensetzen.“. Geht es um die eine medizinische Handlung, die Spritze zu setzen oder geht es um alle körperlichen Hilfestellungen? Ist das Problem, dass Sie für die eine Spritze vorbeikommen und dann drei Stunden für „Kleinigkeiten“ bleiben?

Versuchen Sie, für sich und für Gespräche mit anderen zu spezifizieren, was Sie belastet. Verantwortung, körperliche Belastung, psychische Belastung, eine Verschlechterung der Beziehung, …?

Hilfe holen – in kleinen Schritten oder mit Anlauf

Als nächstes brauchen Sie Hilfe von anderen. Alle großen Aufgaben brauchen Teams und Sie sollten sich eins aufbauen – Schritt für Schritt oder mit einer großen Ankündigung im Familienrat.

Ob einen besten Freund, der Sie beim Umorganisieren einfach nur anfeuert, oder Ihre Schwester, die (aus der Ferne) jeden Planungsschritt mitdenkt. Überlegen Sie, wer ein guter Ratgeber sein könnte: Freunde, Familie, Ärzte oder vielleicht sogar ein Arbeitskollege, der letztes Jahr ähnliche Probleme erwähnt hat? Wenn Sie grade in Ihrem persönlichen Umfeld niemanden wissen, mit dem Sie reden möchten oder können, können auch Beratungsstellen oder professionelle Pflegeberatung helfen.

Wenn Sie merken, dass jemand Sie in der Situation festhalten möchte, aus der Sie rausmöchten, suchen Sie sich eine neue Person. Ihr Verbündeter oder ihre Verbündete sollte nichts sagen wie „Du schaffst das schon! Es ist ja auch nicht mehr lange, oder?“ oder „Reiß dich zusammen – deine Tante braucht dich jetzt!“. Es ist nicht undankbar, jemanden nicht pflegen zu wollen, der einen großgezogen oder der einem geholfen hat. Ihr Leben ist nicht die Notfall- oder Altersvorsorge eines anderen Menschen!

Es ist übrigens völlig normal, dass so eine Befreiungsaktion auch mal länger dauern kann, weil Sie nach dem ersten Gesprächsversuch erst wieder Energie sammeln müssen, falls das nächste Gespräch auch schief geht.

Im Zweifel eskalieren – aber nicht alles kaputtschlagen

Wenn diplomatische Gesprächsversuche nichts bringen, Sie bei anderen Verwandten auf taube Ohren stoßen oder auch vom Familien-Hausarzt nur mehr „schlechtes Gewissen“ kommt, können Sie auch anders ausbrechen.

Sie hören „einfach“ auf. Im Notfall, indem Sie beim Arzt oder Notdienst anrufen und erklären, dass Sie nicht mehr helfen können und Sie und eine andere Person Hilfe brauchen.

Oder etwas organisierter: Pflege kann auch von Profis übernommen werden. Rufen Sie einen Pflegedienst an – uns zum Beispiel, oder andere Pflegedienste in Ihrer Umgebung. Sprechen Sie offen über die Situation. Für uns ist die Krise hinter Ihrer Entscheidung nicht neu. Wir können Ihnen vielleicht nicht helfen, den Clinche mit anderen Nachbarn zu lösen oder den Rest Ihrer Familie für die Verantwortung einzuspannen, aber wir sind Pflegeprofis und können mit Ihnen Möglichkeiten zur Organisation, Durchführung und Finanzierung besprechen.

Und wenn sich in Ihrer Gegend niemand von heute auf morgen finden lässt? Wenn Sie nicht mehr können oder wollen, dann muss eben jemand gefunden werden, der etwas mehr kann und will. Im Zweifel kann das auch ein Pflegeheim oder der Krankenwagen sein. Wenn Sie abwenden können, kaputt(er) zu gehen, ist viel geholfen.

Und wenn Pflege teuer ist? Pflegefinanzierung ist ein komplexes Thema. Wir oder eine andere Pflegeberatungsstelle können Ihnen helfen, weitere Hilfe zu finden.

Und wie sage ich es meiner Familie, meinem Nachbarn, meiner Kollegin, …?

Die Menschen, denen Sie erzählen müssen, dass Sie nicht mehr (so viel) pflegen werden, teilen sich in drei Gruppen:

- Diejenigen, denen Sie die Pflege übergeben. Hier ist es sehr hilfreich, wenn Sie Formalien absprechen, Informationen übergeben und den Einstieg erleichtern können. Machen Sie das aber auch nur im Rahmen Ihrer Möglichkeiten und Kräfte.

- Diejenigen, die irgendwie davon wissen oder damit zu tun haben, aber jetzt nicht (mehr) Pflege übernehmen. Seien das Nachbarn, Geschwister oder Arbeitskollegen. Für alle gilt: wer Vorwürfe macht, fliegt raus. In diesem Fall einfach aus dem Gespräch bzw. Gesprächsthema. Denn all die guten Tipps, Fragen, Vorschläge, etc. hätten Sie vielleicht früher brauchen können, aber jetzt haben Sie ja eine Lösung gefunden.

- Die gepflegte Person.

Es klingt jetzt eher drastisch, dass dieser Mensch erst so spät in der Liste auftaucht? Das liegt daran, dass in den meisten Fällen die „Pflegefalle“ nicht durch einen kooperativen Menschen aufgespannt wird.

Wie Sie das Ende oder die Veränderung der „Hauptperson“ erklären

Wenn die pflegebedürftige Person genauso gestresst von der Situation ist wie Sie, oder einfach Ihr Bestes möchte und selbstverständlich einsieht, dass Sie weniger pflegen können/werden, ist das natürlich hervorragend. Sie können zusammen über jeden Schritt sprechen und auch darüber, welchen Weg Sie aus dem Dilemma finden.

Formales und Organisation

Wenn das nicht geht – sei es durch Wollen oder Können – müssen Sie noch einmal Verantwortung übernehmen und Ihren Ausweg am besten erst mal für sich planen. Losgelöst von allen anderen Faktoren ist die pflegebedürftige Person zumindest in einigen Punkten bisher von Ihnen abhängig gewesen. Am einfachsten ist der Abschied, wenn Sie gleich auch eine konkrete neue Lösung vorstellen können. „Ich kaufe nicht mehr für dich mit ein, aber hier sind ein paar Einkaufs-Lieferdienste, deren Nummern/Webseiten ich für dich rausgesucht habe.“ Oder „Ich komme ab Oktober ein paar Wochen nicht mehr, aber ich habe einen Pflegedienst angerufen. Nächste Woche lernen wir die Leute zusammen kennen.“

Emotional Verarbeiten

Natürlich gibt es zusätzlich noch viele emotionale „Komplikationen“. Denn wenn so ein Ende irgendwie überraschend kommt, dann führt es natürlich erst mal zu Ängsten, Wut oder Traurigkeit. Wenn Sie möchten und können, unterstützen Sie denjenigen darin, mit diesen Gefühlen umzugehen. Versuchen Sie sich klarzumachen, dass vielleicht Vorwürfe kommen, aber die nicht wirklich gegen Sie „zählen“.

Sie gehen aus einer Situation, weil das gesünder und besser für Sie ist.

Stellen Sie sich vor, Ihre beste Freundin würde auf einmal Ihren Geburtstag verpassen, weil sie am gleichen Tag ihr erstes Kind zwei Wochen zu früh bekommt. Es wäre vollkommen normal und okay, wenn Sie kurz traurig oder gefrustet sind, weil Pläne platzen. Es ist sogar normal, ein bisschen wütend auf die Freundin und das Kind zu sein (oder den Vater, das Universum, …). Aber eigentlich, so ganz bei Verstand und mit einem halben Moment Abstand wären die meisten Ihrer Emotionen gegenüber Ihrer Freundin (und dem Kind, Vater, Universum …) wieder hauptsächlich besorgt oder positiv.

Genauso sollte ein Mensch, den Sie bisher gepflegt haben und der Sie schätzt oder sogar liebt, von „wütend, ängstlich, verlassen“ mit etwas Zeit zu „froh, dass es ihr/ihm so besser geht“ wechseln.

Vielleicht eine Pause einlegen

Dieser Wechsel braucht definitiv auf allen Seiten Zeit. Oft ist es hilfreich, wenn Sie erst mal Pause machen – Kontaktpause oder zum Beispiel auch eine Pause von der Pflege, die Sie weiterhin übernehmen wollen.

Das macht einerseits möglichst deutlich, dass sich etwas verändert. Andererseits ist es oft gut, wenn sich Gefühle erst mal beruhigen und neu sortieren können.

Prüfen Sie auch, ob Verhinderungspflege hier vielleicht eine Option für Sie ist – dann können Sie beispielsweise einen richtigen Urlaub einlegen.

Wenn Sie jetzt immer noch keinen Weg für sich aus der Pflegesituation sehen, in der Sie sich gefangen fühlen, versuchen Sie einen ersten kleinen Schritt: Kontaktieren Sie uns, um sich beraten zu lassen. Niemand zwingt Sie, den Tipps dann auch zu folgen oder das sofort zu tun.